Einmal ans Nordkapp und zurück – ganz bequem mit den Hurtigruten-Postschiffen. Was es im hohen Norden noch zu sehen gibt und wo wirklich der nördlichste Punkt Europas liegt erfahrt ihr hier!
Der Mutigste unter ihnen hält den großen Zeh ins Wasser, zuckt kurz zusammen und sprintet entschlossen mit zusammengekniffenen Lippen in das kristallklare Meer. Seine Freunde liegen ausnahmsweise in kurzen Hosen an der Copacabana und klatschen vergnügt. Die Sonne brennt an diesem späten Vormittag ungewöhnlich heiß vom Himmel und doch will keine rechte Badestimmung aufkommen. Verständlich. Denn bei sieben Grad Wassertemperatur steht nur Sonnenbaden auf dem Programm der Jugendlichen aus dem 143-Seelendorf Gjesvaer. Auf der kargen Insel Magerøya nördlich des 71. Breitengrades im hohen Norden Norwegens sind die Einwohner für jeden Sonnenstrahl dankbar. Und doch reisen jedes Jahr über 200.000 Urlauber in die karge Region, um das legendäre Nordkap zu besuchen.
„Wir nennen den kleinen Strand Copacabana, weil er so leuchtend weiß ist“, verrät Esther Amman. Die gebürtige Schweizerin kam als Reisende, blieb der Liebe wegen und lebt seither im winzigen Ort Gjesvaer auf Magerøya. Fast täglich begleitet sie die Ausflüge der Hurtigruten zum Nordkap. Seit 1893 versorgen die Postschiffe die abgelegenen Orte entlang der 2.700 Kilometer langen, norwegischen Westküste mit Waren. Bis heute verkehrt ein täglicher Liniendienst zwischen Bergen und Kirkenes, in den kleinen Häfen werden Lebensmittel, Möbel oder Fahrzeuge ein- und ausgeladen. Auch die Fischereisiedlung Honningsvåg liegt auf der Route der kombinierten Fracht-, Passagier- und Kreuzfahrtschiffe. Hier gehen heute fast alle Gäste der MS Trollfjord von Bord und fahren quer über die baumlose, arktische Insel Magerøya auf der 1956 eröffneten Straße zum Nordkap.
Hinter der Copacabana liegt nur noch der Nordkap-Campingplatz und ein Rica Hotel, danach durchquert der Bus die einsame Tundrasteppe der Insel. Hin und wieder zieht eine Schar Rentiere über die weiten Ebenen. Im Frühjahr bringen die Samen aus Karaskoj nahe der Grenze zu Finnland ihre vom Winter geschwächten Rentiere mit Lastwagen und Marine-Booten nach Magerøya, im Herbst schwimmen die Tiere die knapp zwei Kilometer zum Festland zurück. In der zweieinhalb Monate dauernden Zeit der Mitternachtssonne zwischen Mitte Mai und Ende Juli erwacht die Region zum Leben: Im kurzen Polarsommer sprießen auf der unter Naturschutz stehenden Insel über 400 verschiedene Pflanzen. Winzige, rosarote Röschen drängen sich am Boden, die Rentiere knabbern kiloweise von der weißlichen Rentierflechte. Die Menschen der Region leben vom Fischfang und profitieren vom warmen Golfstrom: Im Sommer kommt der Lachs, im Herbst werden Königskrabben gefangen und im Winter gibt es Kabeljau, der dann einige Monate auf großen Holzgestellen getrocknet und als Stockfisch verkauft wird.
Kurz vor dem Nordkap stehen einzelne Holzzäune oberhalb der Straße. „Hier springen die Rentiere so lange über die Latten, bis sie fliegen können“ schmunzelt Esther Amman. „Schließlich müssen sie zu Weihnachten den Schlitten des Weihnachtsmannes ziehen können.“ Die gut 3000 Einwohner der Insel Magerøya haben ihren eigenen Humor. Und bei schlechter Stimmung ist Stockfisch das Hausmittel der Wahl: Mit dem Hammer wird der knochentrockene Fisch schwungvoll in kleine Stücke geschlagen und mit Brot und Weißwein verspeist. „Die Laune bessert sich natürlich nicht durch den Weißwein“, betont die blonde Reiseleiterin. „Denn Alkohol gibt es im Winter erst nach Sonnenuntergang“. Wie passend, dass im Polarwinter die Sonne gleich zweieinhalb Monate gar nicht über den Horizont blickt. Esther Amman hat sich eben schon eingelebt.
Am Ende der nördlichsten Straße der Welt mit Anschluss an ein internationales Straßennetz wartet das Nordkap, der nördlichste über offizielle Wege erreichbare Punkt Europas am Rande des Eismeeres. Die Europastraße 69 führt direkt auf das 307 Meter hohe Plateau zur Nordkaphalle mit Postamt und Kapelle. Jetzt trennen nur noch die Wellen der Barentsee die Reisenden vom 2090 km entfernten Nordpol. Seit 1978 symbolisiert eine Weltkugel auf den Klippen das Ende der Welt und ist das beliebteste Motiv für ein Beweisfoto vom Nordkap. Oft windumtost zeigt sich die Steilklippe an diesem sonnigen Tag von ihrer besten Seite: Kleine Schönwetterwölkchen lassen den blauen Eismeerhimmel leuchten, erstes Grün klammert sich am Steilfelsen fest. Sind die Postkarten mit Nordkap-Stempel im roten Briefkasten am Ausgang der Nordkaphalle eingeworfen, geht es zurück zum Hafen von Honningsvåg.
Die MS Trollfjord ist schon zum Ablegen bereit, das Horn ertönt und das Schiff nimmt Kurs auf den Wendepunkt der Hurtigruten in Kirkenes nahe der russischen Grenze. Oben auf Deck neun stecken die ersten Gäste bei frischem Fahrtwind mutig den großen Zeh in den Whirlpool und hüpfen hinein. Während das heiß sprudelnde Wasser die Körper wärmt, zieht ein letztes Mal die arktische Landschaft der Nordkapinsel Magerøya vorbei.